Ein guter, heißer April

– ein Buch führt zum nächsten Buch, Upnek’hat, Enuma Elish; zog vorüber an Tagesblättern, Revuen, Broschüren, Postkarten, verschmähten Resten, die nach einer gewissen Zeit unauffindbar sein werden

sie hatten sich geliebt im Hochzeitsbett des Marduk, jetzt gibt es dort Weinbergschnecken und Entenmuscheln, Bordeaux im goldenen Glas

die Tür aufmachen und gehen, irgendwohin, einen Baum betrachten, innehalten in einem Kaufhaus, stocksteif stehen

ein guter, heißer April; kein Grund, jemals an das zu denken, was du heute vorfindest : einen kühlen April, einen April danach, Skizzen ordnen

der Fremde nickt den Bergen zu, der zweite Fremde weicht aus, die an der Kasse nimmt das lächelnde Geld mit den Schultern. Du rufst jemanden an : »Wie verschwindet man spurlos?«

Unterschiedliche Töne und Szenarien, die lose von der Decke hängen wie Lappen, die auf einen Tisch geworfen wurden. Der bärtige Kontinent, der seine Magie an die Ränder hinausdrängt : Andalusien, Normandie, Bretagne, Irland, Skandinavien, Britannien, Griechenland –

Erste Sätze: Der Regenschirm

Als Giambattista an diesem Abend gegen fünf das Büro verlässt und sich auf den Heimweg macht, ahnt er noch nicht, dass er in die endgültige Ungewissheit hinausmarschiert, ahnt er nicht, dass er sein Leben verlieren und wie ein Gespenst in der Welt umherirren wird, dazu verdammt, für immer in zwielichtigen Zwischenregionen zu leben.

Moorleichen

Als ich dann anfing zu singen, dachte ich, dass ich singe, um Sänger zu werden, dass ich auf der Uhr fünf nach acht sah, das Morgenlied in der dritten Klasse, ein hohes Gezwitscher, fast wie Farinelli, der Kastrat, die Glocken noch nicht in Betrieb, aber dann sackte mir der Kehlkopf eine halbe Oktave ab, die Stimmlippen dehnten sich und ich sang nicht mehr, ich gurgelte nur noch, bis ich meinen Bariton fand, natürlich den hohen Bariton. Man könnte doch Geisterhymnen singen, sang ich also Geisterhymnen. Man könnte doch Moorleichen besingen, besang ich also Moorleichen, denen man die Brustwarzen in Scheiben geschnitten hatte, auf dass sie zwar keine Könige mehr sein – aber immer noch tanzen konnten.

Die Zeugen (Jaime Begazo)

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Auch wenn oft behauptet wird, Jorge Luis Borges Borges sei ein Meister der Irreführung gewesen, verhält es sich vielmehr so, dass er seine Leser doch eher davon überzeugte, dass es keinen Unterschied zwischen “Realität” und Fiktion gibt. Dazu musste er nicht auf das Werkzeug einschlägiger Philosophen zurückgreifen; er begriff die bedeutende Rolle, die Sprache bei der Schaffung von Realität spielt und entwickelte das, was später die postanalytische Sprachwissenschaft dankbar aufnehmen sollte, durch sein literarischen Spiel.

Jorge Luis Borges wird völlig zurecht als der Inbegriff der Literatur gesehen. Damit löste er einst Kafka ab, wenn auch in gänzlich anderer Weise. Es ist für jeden an der Literatur interessierten wichtig, ihn so früh wie möglich zu studieren, aber nicht zu früh, weil eine gewisse Lebens- und Leseerfahrung vonnöten ist, dem großen Mann durch seine hermetischen Labyrinthe folgen zu können.

Spricht man über Borges, dann spricht man zu Eingeweihten, zu jenen, die einem geistigen Adel angehören, oder einer Gruppe von Intellektuellen, die den Templern ähnelt, man spricht über ein Geheimnis, in dessen Mitte unweigerlich Borges thront. Ähnlich verhält es sich damit, das Buch “Die Zeugen” von Jaime Begazo zu lesen, der im Grunde – auch wenn er seine eigene findige kleine Erzählung präsentiert – damit nichts anderes tut, als eine letzte Geschichte Borges’ zu Papier zu bringen, oder zumindest ein Geflecht vorzulegen, das auf das Literaturverständnis des großen Mannes rekurriert, inklusive des äußerst präzisen Stils.

In Borges’ Erzählung Emma Zunz taucht einmal kurz der Name Milton Sills auf, ein Schauspieler der Stummfilmzeit, der – außer der Erwähnung einer Daguerreotypie mit seinem Konterfei – keine andere Rolle spielt, als Inventar der Geschichte zu sein. Jaime Begazo stellt sich allerdings in diesem kleinen Kabinettstückchen ganz berechtigt die Frage, was es mit dieser Erwähnung auf sich hat, ausgehend von dem Wissen, dass bei Borges kein einziges Wort jemals bedeutungslos ist. Der Erzähler berichtet uns von seinem Besuch in Genf, wo er Borges 1986, kurz vor seinem Tod, die Frage nach Stills stellen kann. Und der große alte Mann erzählt die “wahre” Geschichte, die sich hinter Emma Zunz verbirgt. Das heißt, er betont die “Realität” dieser Geschichte. Wäre das, was Borges dem Erzähler berichtet, wahr, könnte das alles, was man über Borges weiß, ins Wanken bringen.

Töpfchen koch!

Im obersten Stock des Cafés gingen die Rinderhälften einher; getragen wurden sie von mächtigen Rücken, denen der Skrupel fehlte, zusammenzubrechen. Filet auf Filet, die Füße auf dem ausgewalkten Teppich; auf dem Tisch: Kaffeeflecke ringelten sich wie die Jahreskreise eines gefällten braunsaftigen Baums, olympisch, Zelle für Zelle; ein Tag. Am Abend sangen sie alle “Wish You Where Here”, wozu sie Jim Beam aus einer Dreiliterflasche soffen und den Tränen immer näher kamen; aus der Kneipe herauf quoll der Blues wie Hirsebrei aus dem Topf.

„Töpfchen koch!“

Oh, ihr Gäste, ihr fremden Menschlein, heute Abend schob ich keine Pizzableche in den Feuerschein, verzupfte nicht Salat, schlug keine Filets, zerstieß kein angetrocknetes Mehl, heute versoff ich das Geld, das ich gestern in der Küche verdient hatte, vor Feuerschein und Gurke. Setzt euch doch!

„Setzen wir uns doch!“

Auf die Stühle, die ich mir borgen musste, genauso wie den Tisch, den wir nicht brauchten, weil wir alles auf den Boden schmissen; oh Hasi, Hasi, der feiste Bass : „Töpfchen steh!“

Dann unten: alles voll, die lange Theke – nur noch für mich ein Platz zwischen den rauchenden, schwelgenden Leibern. Du unnahbares Objekt meiner Begierde, mit Augen wie Bambi (Bam Bam Bambi), du Körper der Lust, du Heizdecke (ich widdere dich), rauchiges Universum (der Blues).

Now I left home this mornin’, I swore I’ve stopped and think
Made my friends a promise, I wouldn’t even take a drink
Of that bad, bad Whisky.

Als die Telefonie noch analog verlief

Als die Telefonie noch analog verlief, kam es vor, dass man mit der Wählscheibe nur halbe Ziffern wählte, weil man nicht bis zum Stopper durchzog. Meist passierte nichts weiter und es blieb still in der Leitung, bis auf das Hintergrundrauschen, das man auch zu hören bekam, bevor ein Freizeichen erschien, wenn auch nur kurz. Das Besetztzeichen hingegen erklang sofort. Die Vorstellung aber, doch durchgestellt zu werden, in eine Zwischenzone zu gelangen, war stets vorhanden. Doch wie lange hätte man warten sollen? Geister rühren sich erst dann, wenn sie erkennen, dass jemand einen langen Atem hat. Geduld ist ihre Währung. Eine andere Sache ist es jedoch, eine Nummer zu wählen, die es schon lange nicht mehr gibt, und die nicht vergeben werden kann, weil ihre Zeichenfolge aus einer anderen Epoche stammt. Man denke an ein Restaurant oder Hotel, weil deren Adressen noch leicht zu eruieren sind. Das Restaurant Schlichter im Berlin der 1920er Jahre, einer Zeit also, die viele verzweifelte Stimmen konservierte. Ausbacher Straße 46, Fernruf Amt Steinplatz 15610. Auch hier ist Geduld von Nöten, aber anders als bei einer Nummer, bestehend aus halben Ziffern, bestand dieser Anschluss in unserer Dimension. Was will man den Concierge fragen? Erkundigt man sich nach einem damals berühmten Gast oder gibt man sich zu erkennen als derjenige, der man ist? Ein verlorengegangenes Schattenwesen.