Die Zeugen (Jaime Begazo)

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Auch wenn oft behauptet wird, Jorge Luis Borges Borges sei ein Meister der Irreführung gewesen, verhält es sich vielmehr so, dass er seine Leser doch eher davon überzeugte, dass es keinen Unterschied zwischen “Realität” und Fiktion gibt. Dazu musste er nicht auf das Werkzeug einschlägiger Philosophen zurückgreifen; er begriff die bedeutende Rolle, die Sprache bei der Schaffung von Realität spielt und entwickelte das, was später die postanalytische Sprachwissenschaft dankbar aufnehmen sollte, durch sein literarischen Spiel.

Jorge Luis Borges wird völlig zurecht als der Inbegriff der Literatur gesehen. Damit löste er einst Kafka ab, wenn auch in gänzlich anderer Weise. Es ist für jeden an der Literatur interessierten wichtig, ihn so früh wie möglich zu studieren, aber nicht zu früh, weil eine gewisse Lebens- und Leseerfahrung vonnöten ist, dem großen Mann durch seine hermetischen Labyrinthe folgen zu können.

Spricht man über Borges, dann spricht man zu Eingeweihten, zu jenen, die einem geistigen Adel angehören, oder einer Gruppe von Intellektuellen, die den Templern ähnelt, man spricht über ein Geheimnis, in dessen Mitte unweigerlich Borges thront. Ähnlich verhält es sich damit, das Buch “Die Zeugen” von Jaime Begazo zu lesen, der im Grunde – auch wenn er seine eigene findige kleine Erzählung präsentiert – damit nichts anderes tut, als eine letzte Geschichte Borges’ zu Papier zu bringen, oder zumindest ein Geflecht vorzulegen, das auf das Literaturverständnis des großen Mannes rekurriert, inklusive des äußerst präzisen Stils.

In Borges’ Erzählung Emma Zunz taucht einmal kurz der Name Milton Sills auf, ein Schauspieler der Stummfilmzeit, der – außer der Erwähnung einer Daguerreotypie mit seinem Konterfei – keine andere Rolle spielt, als Inventar der Geschichte zu sein. Jaime Begazo stellt sich allerdings in diesem kleinen Kabinettstückchen ganz berechtigt die Frage, was es mit dieser Erwähnung auf sich hat, ausgehend von dem Wissen, dass bei Borges kein einziges Wort jemals bedeutungslos ist. Der Erzähler berichtet uns von seinem Besuch in Genf, wo er Borges 1986, kurz vor seinem Tod, die Frage nach Stills stellen kann. Und der große alte Mann erzählt die “wahre” Geschichte, die sich hinter Emma Zunz verbirgt. Das heißt, er betont die “Realität” dieser Geschichte. Wäre das, was Borges dem Erzähler berichtet, wahr, könnte das alles, was man über Borges weiß, ins Wanken bringen.

Im Café der verlorenen Jugend (Patrick Modiano)

In Modianos Roman von 2007 schwebt eine rätselhafte junge Frau namens Jaqueline, die von den meiste aber “Louki” genannt wird, im Text umher. Als wir ihr zum ersten Mal begegnen, wird uns gesagt, dass an ihr nichts Gewöhnliches ist. Tatsächlich spukt sie in der Erzählung herum wie ein Geist oder eine schlecht geformte Präsenz, die darauf wartet, in die Handlung einzugreifen, aber aus welchem Grund auch immer nicht in der Lage ist, die anderen Figuren voll in die Handlung einzubinden.

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Aber das zentrale Thema des Romans ist nicht wirklich Louki und ihre Beziehung zu den verschiedenen Erzählern, sondern das Konzept der “Fixpunkte” oder des Fehlens solcher Fixpunkte in ihrem Leben. Fixpunkte halten uns in unseren jeweiligen Realitäten fest, aber wie Patrick Modiano in seinem gesamten Werk gezeigt hat, werden alle Bezugspunkte im Nachkriegsmilieu verdächtig, insbesondere diejenigen, die wir in der Erinnerung verorten. So wird das Leben seiner Figuren immer wieder neu durchdacht und im Geflecht seiner Erzählungen neu fixiert.

Das Besondere an diesem Buch ist das Verharren des Lesers auf den kleinsten Details, auf sein Erzählmuster. So leicht, wie Modiano zu lesen ist, bietet er seinen Lesern dennoch eine dunkle, bedrohliche Welt, aber auf so subtile Weise, dass wir die Bedrohung kaum wahrnehmen. Modianos fiktionale Welt ist nicht postapokalyptisch, wie die fiktionalen Welten von Beckett, sondern postrelational. Das heißt, Modiano gibt uns eine Welt, in der vertraute Muster, ob in der Erinnerung, in Nachbarschaften oder in Situationen, zerstreut und dem Wind überlassen werden. Auch seine Figuren werden in einer Welt schmachtend zurückgelassen, in der ihre Beziehungen zu anderen Figuren, zum Ort und zu sich selbst nicht mehr sicher sind. Das Café der verlorenen Jugend gibt uns einen Einblick in eine Welt, in der alles, was wir für wahr hielten, verdächtig wird, sogar die Beziehung des Lesers zum Text.

Der in vier Teile gegliederte, wie immer bei Patrick Modiano, kurze Roman zeigt uns mehrere Männer, die versuchen, Loukies Geheimnis zu ergründen. Wie bei Orson Welles’ Citizen Kane geht es darum, dass diese junge Frau letztlich für immer eine Unbekannte bleibt. Wie in Thomas Pynchons Die Versteigerung von No. 49 ist gibt ein Rätsel, das im weiteren Verlauf nur noch mysteriöser wird. Eine weitere Parallele ist David Lynchs Lost Highway, das im Vorort von Los Angeles und in der leeren Wüste Kaliforniens spielt. Es ist ein Film, der die Tropen des Film Noir nutzt, um die Tiefen der individuellen Entfremdung und des psychologischen Horrors auszuloten.

Trotz der Informationen, die sich in den vier Kapiteln ansammeln, bewahrt Louki einen rätselhaften Dunst um sich herum. Das erste Kapitel wird von einem jungen Studenten erzählt. Er sieht Louki als ein entferntes Liebesobjekt, eine Ikone der Verliebtheit.

Caisley erzählt das zweite Kapitel, wobei der Ton von jugendlicher Lust zu einem weltmüden Noir wechselt. Von ihrem Ehemann angeheuert, untersucht Caisley Loukis Verschwinden.

Während das dritte Kapitel von Louki selbst erzählt wird, stellt sich das Kapitel nicht als ein Moment der Offenbarung oder Lösung dar. Es gibt plötzlich noch mehr Informationen und noch mehr Fragen.

Das letzte Kapitel wird von Roland, einem Kommilitonen von Guy de Vere, einem Lehrer für esoterische Philosophie, erzählt. (Die Details der Handlung sind minimal gehalten, da die Freude durch die langsamen Anhäufung von Informationen entsteht, die durch die vier verschiedenen Perspektiven offenbart und verwischt werden).

Wer ist Louki? Was motiviert sie zu ihrem Handeln? Wie lautet die abschließende Beurteilung ihres Charakters? All dies bleibt ungeklärt und unerklärt. Nicht alle Rätsel waren dazu bestimmt, gelöst zu werden.

Modiano bedient sich des Noir und der künstlerischen Kulisse, um die moralische Finsternis eines Frankreichs nach dem Vichy-Regime zu erforschen. Nach der Okkupation erlebte Frankreich einen Ausbruch von Selbstjustiz, eine kollektive Absolution für die Kollaboration mit den Nazis. Der zweite Aspekt des Frankreichs nach dem Vichy-Regime war eine kollektive Erfindung vergangener Leben. Viele schufen ihre eigenen Mythologien und verwandelten sich in heroische Widerstandskämpfer. Die Vierte Französische Republik, ein schwaches System, das sich von der militärischen Niederlage und der politischen Kollaboration erholte, stolperte ein Jahrzehnt lang dahin, bis die Algerienkrise von 1958 ihren Untergang besiegelte und die Rückkehr von General DeGaulle einleitete.

Das Geniale an Modianos Werk liegt darin, dass es das sehr reale moralische Chaos des Frankreichs nach dem Vichy-Regime und seine Schaffung eines eigenwilligen Milieus überbrückt. Patrick Modiano geht über die Checklisten-Genauigkeiten der historischen Fiktion hinaus und entwirft einen üppigen Fiebertraum voller Glamour, Mysterium und Verzweiflung.

Der Mummenschanz in den Exquisiten Lektüren

Frank Duwald, den ich zu Beginn des Phantastikon-Magazins 2015 kennenlernte (und der auch einige Texte zu Beginn beisteuerte), hat sich immer schon als Leser positioniert, der das Besondere zu schätzen weiß; und damit ist vor allem eine Literatur gemeint, die man innerhalb unserer gleichgeschalteten Melasse immer schwieriger auffindet. Ich gebe es zu: ich war immer schon beunruhigt, wenn ich Wertschätzung erfuhr (das ging mir sogar bei meiner Frau so, es ging mir später bei Tobias Reckermann so, und es ging mir auch bei Silke Brandt nicht anders). Lady’s and Gentleman … ich bin Verhaltensgestört!

Dass Frank mich für seine EXQUISITEN LEKTÜREN ausgewählt hat (und ich Tatsächlich neben einer Gigantin wie Virginia Woolf dort Platz nehmen darf) ist tatsächlich ein freudiger Augenblick für mich. Man darf bei alledem wirklich nicht vergessen, dass ich ein aus der Welt Gefallener bin, der sich durchaus bewusst ist, wie sehr im Abseits er schreibt. Ich gebe Franks Text also hier wieder:

EXQUISITE LEKTÜREN

Michael Perkampus

MUMMENSCHANZ IN GROSSEN HALLEN (2020)

Wenn man eines bei der exquisiten Lektüre von MUMMENSCHANZ IN GROSSEN HALLEN direkt vergessen kann, dann ist es ein, wie ich finde, natürlicher Leserdrang, Geschichten, mit denen man einige Zeit verbringt – zu verstehen. Diesen einfachen Wunsch erfüllt uns Michael Perkampus in keiner der enthaltenen Geschichten. Aber, wie wichtig ist denn das Durchschauen von erzählender Literatur am Ende wirklich? Und wie wichtig ist es, wenn diese erzählende Literatur etwas in uns zum Klingen bringt, ohne, dass wir wirklich dahinter kommen, wie das dem Autor, dessen abseitiges Fantasie-Reservoir unermesslich zu sein scheint, gelingt?

Der Band gibt uns sieben Erzählungen, die bereits zwischen 2008 und 2019 in diversen Anthologien erschienen sind, sowie acht hier brandneu veröffentlichte. Es scheint mir unmöglich, daraus einzelne Texte herauszugreifen, da sie jeweils ein Bild ergeben, das sich auf das gesamte Buch umbrechen lässt. Was mir an erster Stelle das unbedingte Verlangen, Erklärungen zu erhalten, unwichtig werden lässt, ist die Art und Weise, wie Perkampus seine jenseits aller Klischees stattfindenden Ereignisse ausgibt. Mit einem sehr großen Wortschatz gesegnet, lässt Perkampus jeden Satz zu Musik erklingen. Um das zu erkennen, braucht man nur wahllos einzelne Sätze laut lesen, um zu spüren wie der Sprach-Rhythmus groovt. Perkampus nutzt Sprache wie begnadete Musiker ihre Instrumente. Und einen sehr guten Musiker erkennt man schon an seinen ersten Tönen – so auch Michael Perkampus. Ob mit der Realität unserer Zeit, mit manipulierter Historie, Schauerausbrüchen, sphärischer Phantastik oder gar Endzeit – er spielt mit jedem Thema so virtuos und macht es zu seinem eigenen, wie es nur ein Meister kann, wenngleich manchmal etwas mehr Herz das Ganze in meinen Augen nochmals steigern könnte. Zur noch intensiveren Wirkung empfehle ich, die Geschichten nicht hintereinander wegzulesen, sondern sich jeden Tag nur eine davon zu gönnen und sie zu genießen wie ein 5-Sterne-Essen.

Sitwell nicht zu übersetzen

Von einigem Interesse scheint mir zu sein, dass jene, die sich gegenwärtig ins Nichts zurückgezogen haben, auch in der Vergangenheit tot sind. Es wäre leicht zu beweisen, uns aber fehlt die Finesse, die Vergangenheit durch unser Schattenauge losgelöst anzusehen, weshalb wir sie überhaupt erst erfinden. In der Erfindung sind wir lebensklug, wenn nicht gerade akribisch darin, jedes Teilchen dorthin zu legen, wo es zwar nie gewesen sich für unsere heutigen Augen dennoch gut ausmacht.

Sitwell

Kurz zog ich in Erwägung, einige Gedichte von Edith Sitwell zu übersetzen, aber von derartigen Vorhaben muss ich Abstand nehmen, das wurde mir bereits bei Eric Basso klar, dem ich dasselbe Vorhaben zukommen lassen wollte. Sitwell und Basso sind nun nicht miteinander zu vergleichen. Ich erwähne sie nur in einem gemeinsamen Satz, weil sie mich persönlich vor die gleichen Probleme des Mikrokosmos stellen, dem ich selbst genug schon zuarbeite, als dass ich durch Übersetzung eine neue Position einnehmen könnte.

Edith Sitwell war das ultimative Schaustück der Exzentrikerin in einer Zeit, die überdurchschnittlich viele davon hervorbrachte. Das mag daran liegen, dass sie aus einer notorisch exzentrischen Familie stammte – einer Familie, zu der eine Mutter gehörte, die wegen Betrugs im Holloway-Gefängnis saß, und ein Vater, der eine kurze Geschichte der Gabel und eine Geschichte der Kälte publizierte und eine Pistole zum Erschießen von Wespen erfand. Sie ging weit über das Bild der schrulligen, aber liebenswürdigen Landedelfrau hinaus.

In erster Linie war Sitwell natürlich eine Dichterin, eine Säule des künstlerischen Lebens in London, und verkörperte eine heute allgemein unterrepräsentierte Seite der Moderne. “Guter Geschmack ist das schlimmste Laster, das je erfunden wurde”, sagte sie, stets im Widerspruch zu den herrschenden Geschmacksvorbildern, ob diese nun dem Establishment oder der Avantgarde angehörten.