Im Café der verlorenen Jugend (Patrick Modiano)

In Modianos Roman von 2007 schwebt eine rätselhafte junge Frau namens Jaqueline, die von den meiste aber “Louki” genannt wird, im Text umher. Als wir ihr zum ersten Mal begegnen, wird uns gesagt, dass an ihr nichts Gewöhnliches ist. Tatsächlich spukt sie in der Erzählung herum wie ein Geist oder eine schlecht geformte Präsenz, die darauf wartet, in die Handlung einzugreifen, aber aus welchem Grund auch immer nicht in der Lage ist, die anderen Figuren voll in die Handlung einzubinden.

Modiano Jugend

Aber das zentrale Thema des Romans ist nicht wirklich Louki und ihre Beziehung zu den verschiedenen Erzählern, sondern das Konzept der “Fixpunkte” oder des Fehlens solcher Fixpunkte in ihrem Leben. Fixpunkte halten uns in unseren jeweiligen Realitäten fest, aber wie Patrick Modiano in seinem gesamten Werk gezeigt hat, werden alle Bezugspunkte im Nachkriegsmilieu verdächtig, insbesondere diejenigen, die wir in der Erinnerung verorten. So wird das Leben seiner Figuren immer wieder neu durchdacht und im Geflecht seiner Erzählungen neu fixiert.

Das Besondere an diesem Buch ist das Verharren des Lesers auf den kleinsten Details, auf sein Erzählmuster. So leicht, wie Modiano zu lesen ist, bietet er seinen Lesern dennoch eine dunkle, bedrohliche Welt, aber auf so subtile Weise, dass wir die Bedrohung kaum wahrnehmen. Modianos fiktionale Welt ist nicht postapokalyptisch, wie die fiktionalen Welten von Beckett, sondern postrelational. Das heißt, Modiano gibt uns eine Welt, in der vertraute Muster, ob in der Erinnerung, in Nachbarschaften oder in Situationen, zerstreut und dem Wind überlassen werden. Auch seine Figuren werden in einer Welt schmachtend zurückgelassen, in der ihre Beziehungen zu anderen Figuren, zum Ort und zu sich selbst nicht mehr sicher sind. Das Café der verlorenen Jugend gibt uns einen Einblick in eine Welt, in der alles, was wir für wahr hielten, verdächtig wird, sogar die Beziehung des Lesers zum Text.

Der in vier Teile gegliederte, wie immer bei Patrick Modiano, kurze Roman zeigt uns mehrere Männer, die versuchen, Loukies Geheimnis zu ergründen. Wie bei Orson Welles’ Citizen Kane geht es darum, dass diese junge Frau letztlich für immer eine Unbekannte bleibt. Wie in Thomas Pynchons Die Versteigerung von No. 49 ist gibt ein Rätsel, das im weiteren Verlauf nur noch mysteriöser wird. Eine weitere Parallele ist David Lynchs Lost Highway, das im Vorort von Los Angeles und in der leeren Wüste Kaliforniens spielt. Es ist ein Film, der die Tropen des Film Noir nutzt, um die Tiefen der individuellen Entfremdung und des psychologischen Horrors auszuloten.

Trotz der Informationen, die sich in den vier Kapiteln ansammeln, bewahrt Louki einen rätselhaften Dunst um sich herum. Das erste Kapitel wird von einem jungen Studenten erzählt. Er sieht Louki als ein entferntes Liebesobjekt, eine Ikone der Verliebtheit.

Caisley erzählt das zweite Kapitel, wobei der Ton von jugendlicher Lust zu einem weltmüden Noir wechselt. Von ihrem Ehemann angeheuert, untersucht Caisley Loukis Verschwinden.

Während das dritte Kapitel von Louki selbst erzählt wird, stellt sich das Kapitel nicht als ein Moment der Offenbarung oder Lösung dar. Es gibt plötzlich noch mehr Informationen und noch mehr Fragen.

Das letzte Kapitel wird von Roland, einem Kommilitonen von Guy de Vere, einem Lehrer für esoterische Philosophie, erzählt. (Die Details der Handlung sind minimal gehalten, da die Freude durch die langsamen Anhäufung von Informationen entsteht, die durch die vier verschiedenen Perspektiven offenbart und verwischt werden).

Wer ist Louki? Was motiviert sie zu ihrem Handeln? Wie lautet die abschließende Beurteilung ihres Charakters? All dies bleibt ungeklärt und unerklärt. Nicht alle Rätsel waren dazu bestimmt, gelöst zu werden.

Modiano bedient sich des Noir und der künstlerischen Kulisse, um die moralische Finsternis eines Frankreichs nach dem Vichy-Regime zu erforschen. Nach der Okkupation erlebte Frankreich einen Ausbruch von Selbstjustiz, eine kollektive Absolution für die Kollaboration mit den Nazis. Der zweite Aspekt des Frankreichs nach dem Vichy-Regime war eine kollektive Erfindung vergangener Leben. Viele schufen ihre eigenen Mythologien und verwandelten sich in heroische Widerstandskämpfer. Die Vierte Französische Republik, ein schwaches System, das sich von der militärischen Niederlage und der politischen Kollaboration erholte, stolperte ein Jahrzehnt lang dahin, bis die Algerienkrise von 1958 ihren Untergang besiegelte und die Rückkehr von General DeGaulle einleitete.

Das Geniale an Modianos Werk liegt darin, dass es das sehr reale moralische Chaos des Frankreichs nach dem Vichy-Regime und seine Schaffung eines eigenwilligen Milieus überbrückt. Patrick Modiano geht über die Checklisten-Genauigkeiten der historischen Fiktion hinaus und entwirft einen üppigen Fiebertraum voller Glamour, Mysterium und Verzweiflung.

Der kolossale Weltenschwund

Hinter den in Reih und Glied stehenden Mülleimern zugte ein Schienenbus vorüber, knarzte bei quiekenden Fahrgeräuschen schwarzen Rauch in den wintergrauen Himmel, die Gesichter hinter den Scheiben kaum von Eisblüten zu unterscheiden. Geister, wir im Anorak mit Fellkapuze, abnehmbar.

Besungen habe ich – und hauchte damit ein dem Sang mein Leben, das ich selbst von ihm erfuhr; besungen habe ich all das, was ich erfuhr von meiner Selbst. Aus frischem Munde drangen Töne, drangen Noten, drangen Taten, frische Moritaten, den Bänkelsang stets eingeübt, jetzt virtuos ans Ohr gestellt.

Eine neue Tageszeit war angebrochen (mit erstaunlich viel Bewegungsfreiheit). Ich lehnte an der Brüstung meines Balkons, fühlte mich so groß wie der einzige Baum. In der Luft schwebten Paradiesgeister, betörten mit einer Sprache des lockenden und unerreichbaren Glücks, an dem der Mensch stirbt, wenn es nicht gemein, alltäglich, abgenutzt ist. Wer die Schönheit angeschaut hat mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben. Ich war bereits homerischer Heros, die Hetäre Aspasia, der Kyniker Krates, war König und Bettler, Pferd, Dohle, Frosch und mehrmals ein Hahn.

Die Stadt in ihrer persönlichen Dämmerung bedeutet ein Grollen tief in ihrem Leib, nicht Engelscharen wie ein florierender Gedankenschimmer. Kein Wesen ist der Engel, aber ein Informatiker der Wunder, verwechselbar mit einem Kronleuchter, immunes Licht, von einem Lichtschalter umworben.

Dazwischen bleibt der Welten Pest, der Auswurf der Gezeiten.

Der Geborene bestimmt seine Verneinung selbst, seine Existenz ist ein Feuerball, rein, glühend, enorm. Anders jene, die auf den Küchenboden plumpsen, unbemerkt, bis zu diesem Zeitpunkt zwischen Waschzuber und Kernseife, speckigen Handtüchern und dampfenden Kesseln, ihr Herzstück. Der Hund riecht in der Ecke die gebrochenen Knochen des Fasans, den wir anfassen durften. Die Pfeife zwischen den ungekürzten Fingernägeln erzählt von Promenaden ostwärts. Die Soße bahnt sich den Weg das Bein hinab, als käme es darauf an, weißt du?

Alles, was jetzt gesagt wird, wird von Staubmilben umgesetzt, ihre Höhe ist unsere Höhe, ihr Sturz ist nichts im Vergleich zu all den Bittbriefen, ausgedacht am Herd, später im Herd. Die Schere ist da, schneidet die Nabelschnur, die jetzt wie ein Bandwurm aus ihrer Möse hängt, ab.

Der Vogel schreit gleich los, ohne dass es etwas bräuchte, wird von schwieligen Händen zum Baden ins Spülwasser geworfen, das Hack ins Ei, Paniermehl, Pfeffer, Salz, alles gut vermischt.

Weißt du denn schon, wo du draufgehen wirst?

Bevor du sein Haus betrittst, hast du ihm zu sagen, wo du draufgehen wirst. Sie wird wollen, dass man etwas auf dein Grab legen kann, einen Stein, den sie beim Flennen umklammern kann, wird wollen, dass man dich zugenäht betrachten kann, wiedererkennt. Wenn man die Würste zu heiß siedet, platzen sie in ihrem Darm.

Aus meinem Mund drangen Emissionen fremder Sterne, Röntgen- und Reflexionsnebel.

Sie erblickte sich selbst aus einer Muschel steigen, ganz ohne die unheilvollen Verwundungen, die ihre Knochen trugen, weiß wie das Gleisen eines umgestülpten Planeten. Der Puls des Atems erschuf sie neu. Sie erkannte den Zeitpunkt ihrer Niederlage. Meine Augen lagen verdreht in Höhlen der Verzückung, verschwommen hinter Wänden des Schlafs. Kollabierende Zeitsphären, flügelzerschnittene Luft, in einer Grube der Impressionen, Miasma aus Staub, Quirl aufschießender Sphären. Ich rannte durch Dornenfelder, Flügelschlag mit Weltenklang (wie frei die Täler), nebelrein; und alles ist als Spiel erdacht, und wo ich meine Kerze trage, pustet man sie aus.

Räume entstanden, radierten die Wirklichkeit hinfort.

Ich habe dich beobachtet, wie du mit nackten Füßen über die Totenschädel gingst. Die wenigsten zerbröckelten unter deiner nachtschattigen Gestalt. Die Vergangenheit erschien wie dein persönliches Parkett aus der Tiefe aller Erinnerung. Wo gehst du hin? Und warum diesen Weg?

Die Kreuzung ist um diese Uhrzeit leer. Keine Entscheidung, die zu dieser Stunde getroffen wird. Deine Balance ist der Ruhepol dieser Nacht, auch wenn du nicht weißt, dass ich dich sehen kann. Die Gitter der alten Schmiede sind verschlossen. Ich streife oft durch die verwegenen Viertel, nichts Natürliches findet sich hier. Die Gräber der aufgerissenen Straße erreichen die verlassene Vorstadt. Wenn ich dich anspreche, erwachst du. Wenn ich dich lasse, wird ein Fehltritt dich versinken lassen. Meine Kreuzung, meine Entscheidung.

Die neutralen Dinge können sich in furchterregende Dinge verwandeln. Ich ertrage kaum mein Älterwerden, auch wenn es sich nur im Spiegel abspielt; nur dann nicht, wenn ich die Brücke, das Schloss betrachte, und dich, wie du warst, wie du unverändert hinter meinen Lidern stehst. Dich durchlöchert keine Epoche, du existierst wie eine Fotografie, deine Haltung wird sich nie verändern, deine Stimme nicht; kein Haus, kein Garten. Ich kann die Obstbäume zählen, die Früchte auf dem warmen Gras. Ich dachte, ich schließe die Vorhänge, halte die Uhren an, verdecke die Spiegel und ziehe mich in mein Zimmer zurück. Der kolossale Weltenschwund ginge mich nichts an.

Jetzt aber bin ich hier. Vielleicht decken sich die Ereignisse nicht, vielleicht sind sie etwas durcheinandergewürfelt. Vor und zurück auf der Zeitskala, Alpha und Omega nur künstlich, der ewige Strom aus Einbildung und Erfindung.

Wäscheboden

Manchmal sitze ich auf dem Dachboden in dem Sessel, der in der Wohnung einer freien Teppichfläche weichen musste. Die Duftmischung aus altem Gebälk, weichgespülter Wäsche und dem riesigen Lexikon mit Goldschnitt, das vorerst auch aus meinem Arbeitszimmer verschwunden ist, weil es so ungemein bibliothekarisch riecht, oder besser und wahrhaftiger, weil ich in diesem Raum nicht mehr laufen kann, verleitet mich dann dazu, mir eine Pfeife anzuzünden. Ich sitze da und betrachte die vertraute Wäsche. Und wenn ich unter dem Dach wohnen würde? Das ginge nicht ohne Hut. Also gehe ich hinunter in die Wohnung und suche mir einen aus, den ich selten trage, schließlich sitze ich auch selten unter der Wäsche; wieder oben angekommen, finde ich das Bild, das ich mit mir selbst darin nicht sehen kann, perfekt. Aber vielleicht trage ich die falschen Schuhe, denn was ich trage, kann man nicht Schuhe nennen. Aber morgen, wenn ich die Wäsche abnehme, werden es die richtigen sein.

Das Schneeberg-Habitat

Hoch auf den Schultern des Landes saß der Berg, so dass er noch ein Stück höher reichte und deshalb wesentlich mehr sah als angenommen.

Wenn er sich bewegte, tönte aus seinem Inneren ein heulender Ton, ein Schnaufen lang zurückliegender Zeiten. Es gab kaum Platz an seinen starken Flanken, kaum ein Emporkommen an den Splittern seiner Gegenwart, und seine Krallen waren finstere Bäche, die in Kavernen hinabstiegen und nicht an den Wiesen interessiert waren, die ihnen schöne Augen machten und über Nacht verschwanden. Sie stiegen in ein anderes Tal und brauchten nicht lange für ihre Entscheidung.

Ein Ornament, schöner als ein Filzhut, blieb zurück und drückte sich tief in die Erde, die ihre Stirn zu runzeln verstand. Diesen Berg bestieg ich aufgrund einer Vorahnung, ein Zeichen, das ich am Grunde eines Suppentellers sah. Es könnte Regen geben und es könnten sich neue Bäche bilden, es könnte ein neues Feld entstehen, abstrakte Muster, die zu lesen waren, wenn der Gipfel nichts dagegen hatte, wenn die Turbulenzen etwas nachgelassen hatten. Noch war die Zeit nicht vorbei, Zöpfe pilgerten die Wangen entlang, blaue Augen starrten in die Nacht aller Nächte hinaus. Ein Bild keiner Sonne. Ein eingerahmter Pflug. Das Schwert vergessener Fahrten. Noch zürnten die heißen Lippen, aber schon tranken sie die nächste Tasse eines fürchterlichen Wimmerns. In den Hütten blieb es still. Der Schlaf ging um und rührte nicht an den Geheimnissen, den unverschlossenen Türen, die in kleine unbenutzte Kammern ohne Fenster führten. Auch dort hingen die Träume bündelweise von der Decke, jeder von ihnen mit einem Preisschild versehen.

Ein Schneedämon, der sich von Fleisch ernährt, um danach in die Wälder zu verschwinden, um sich das eiskalte Schnütchen mit jungen Fichten zu putzen, quergelegt und weich. Die Förster hielten das abgescherte Bäumelein für Windfraß, das Schneelager für Holles Bettenzelt, das Bluträtsel für füchsisches Treiben, das Kochfeuer für Magie. Man erzählte es nicht in der Kneipe, sagte nicht: Ich habe heute im Wald einen Herd entdeckt, Nierengulasch war noch übrig, aber ich wollte nicht riskieren, dass dieser weiße Riese erwacht und mir vielleicht Lungen und Herz abfrühstückt.

Über Wilum Hopfrog

Obwohl ich der erste deutsche Übersetzer für W.H. Pugmire war, erschien der erste Erzählband in deutscher Sprache ohne mein Zutun unter dem Namen “Der dunkle Fremde” im Blitz-Verlag. Allerdings wies mich Wilum bereits in unseren Gesprächen darauf hin, dass eine Übersetzung auf dem Weg sei, als ich um die Einwilligung bat, eine Geschichte für die Miskatonic Avenue (Print, 2018) auswählen zu dürfen. Wilum ging dabei sogar so weit, mir zu offerieren, dass ich alles und jedes von ihm übersetzen dürfe. (Im Phantastikon habe ich mich über die von Dr. Franz Roßnagel getätigte Übersetzung ausgelassen). Als Pugmire im März 2019 starb, war diese Vereinbarung natürlich halbwegs substanzlos und ich weiß gegenwärtig nicht, wer die Rechte an seinem Werk besitzt, kann mir aber vorstellen, dass sie auf seinen Freund S.T. Joshi übergingen. Aus meinem Bestand habe ich nun “Abstieg in den lichten Schatten” für den Podcast vertont. Und es ist nicht die letzte Story, die folgen wird.

Zehn Jahre redaktionelle Misswirtschaft

Vielleicht schufte ich mich ein wenig zu Tode, zumindest sollte man nicht vier Projekte unter voller Fahrt im Alleingang auf sich nehmen, wenn – ja wenn – es weder Termine, noch Interessenten, noch überhaupt Auftraggeber gibt. Andererseits säße ich dann nur herum und würde Däumchen drehen. Eine freudiger Dank derjenigen, dessen Texte ich übersetze und sogar für den Podcast produziere, ist dann schon alles, was mich treibt. Zu wenig natürlich, um am Leben zu bleiben, vor allem, weil die übersetzten Texte ja von denen, die das interessieren würde, gar nicht gelesen oder gehört werden können. Das Phantastikon als Ganzes ist ein gewaltiger Klumpen Misserfolg. Wir sind jetzt im zehnten Jahr, da darf man zu einer Analyse ansetzen. Woran liegt es? Networking. Inhalte sind völlig schnurz, nur das Networking zählt. Das war für mich lange schwer zu begreifen. Es gibt ein Geheimnis, das Phantastikon betreffend, aber wenn ich das jemals lüften würde, würde man es entweder nicht glauben oder mich für total Verrückt halten.