Was geschah mit dem Gral?

Seit längerer Zeit habe ich nun endlich wieder eine Geschichte fertig. Tatsächlich plänkelte ich fast ein Jahr nur herum, mit der festen Absicht, das Schreiben sein zu lassen. Dann aber überkam mich die Idee, mich mehr mit dem englischsprachigen Raum auseinanderzusetzen. Ich habe doch einige Kontakte zu amerikanischen Autoren, was von meinen Übersetzungen herrührt. Man muss wohl kaum erwähnen, dass es sich mit diesen Leuten gut und zwanglos reden lässt. Deshalb habe ich nicht nur CASTRUM MONTSEGUR fertiggestellt, sondern auch gleich ins Englische Übertragen, ein echter Krampf übrigens. Dort heißt sie jedoch PONT MONTSEGUR, und ich weiß noch nicht, wem ich sie anbiete. Das gilt auch für das Original. Ich bin leider nicht so vernetzt mit anderen. Andererseits könnte sie der Auftakt zu einer neuen Sammlung sein, denn ich habe gleich DAS HAUS AM MEER überarbeitet, die wesentlich kürzer ist und lange einfach nur in der Schublade lag.

Noch etwas habe ich vor, und das betrifft DIE TIGERIN VON CACHTICE. Eine Geschichte, die sich mit Elisabeth Bathory beschäftigt. Wie bei allen meinen “historisch” motivierten Kurzgeschichten, gibt es auch hier einen “goldenen Schlüssel”, der die Überlegungen in eine andere Richtung treibt. Diese Geschichte kann ich nicht überarbeiten, ich muss sie vollständig neu schreiben. Das also ist zu tun. Was den “goldenen Schlüssel” betrifft, existiert er natürlich auch in CASTRUM MONTSEGUR. Was geschah mit dem Gral? Was ist er? Und warum wird ihn nie jemand finden?

Mummenschanz. Stück für Stück: Der Böhwind

Mummenschanz

Der Böhmwind ist eine der zentralen Erzählungen aus dem Buch, das den Arbeitstitel “Sandsteinburg” trägt, ein Buch, das ich als “absolutes Buch” angelegt habe. Um das zu erläutern, müsste ich tief in die Literaturgeschichte tauchen, was ich als sinnlos erachte. Nur so viel lässt sich sagen: es besteht aus mehr als nur seinen Teilen, die mit Karten, Essays, und allen möglichen anderen Textarten gespickt sind.

In vielen meiner Erzählungen taucht der Begriff “Raha” auf, einer mysteriösen Stadt in einer anderen Dimension. In der uns bekannten Welt liegt unter der Glocke Rahas das Fichtelgebirge mit seinem Hauptschauplatz Schwarzenhammer.

Die Melancholie einer ländlichen Idylle

Die Mädchen sind frühreife, sonnenpolierte Nymphen, ein sanfter Splitter im Granit, der den Härtegrad verdirbt. Durch ihr rätselhaftes Fangen-Spiel wetteifern sie mit den Blumen der Lüfte, den Schmetterlingen; sie fassen sich an den luftdurchfluteten Blütenkleidern, klirrend ihr Lachen, die Zeit verwelkt. Heute sind sie jedermännisch, ihrer früheren Geheimnisse beraubt, doch damals konnte man ihre lunare Stimmung erhaschen. Jede von ihnen eine potentielle Jägerin der Nacht, vor Mitternacht zu Bett getragen, um im Traum zu verpuppen. Der Sommer trägt die Gelüste vorwärts, im Frühling versprochen, im Herbst entspannt genossen. Das erste Regen der Exogamie.

Sie schwangen am Baum vor dem Haus : Mone. Und Katjanka, die sich mit ihrem nachtschwarzen Haar, in dem sich verschiedene Blumen gut ausmachten, besonders für Indianerspiele eignete. Das Besondere an diesen fallenden seidenschimmernden Garnen war, daß man Konraden und Zimbelkraut damit festzurren konnte. Diese Art des Blumenbindens verkürzte ihre Frisur zunehmend, vom verhangenen Gesicht zur Windschnittigkeit getrimmt : Frisuren im Wandel der Zeiten.

Ich sah die beiden Hanfseile auf mich zu, von mir weg knirschen. Versteckt unterm Fenster das geflüsterte Trillern der Schaukelnden, die sich im Idiom eines leisen Kicherns miteinander unterhielten, die Mühlgrabenbrücke als geschätzte Kulisse. Ziegen mähten Gras: »Gras! Die wippen, wir fressen. Gras!«

Die Uhr gongte eine verquaste Stunde in die Sommerluft hinein. »Gras! Die wippen, wir fressen Gras.«

GONG! Es stank plötzlich nach Zeit. Im Sommer trägt die Luft den Ton bis in den Raum, in dem man steht. Keiner weiß, was das Nichts ist. Auch das Gelächter da draußen weiß es nicht. Lachen täuscht nicht über Vergänglichkeit hinweg. Jeder Winkel negiert einen Augenblick. Das Nichts als Abwesenheit von Erinnerung.

Ich sehe aus dem Fenster, zwischen die Hanfseile hindurch, an der Linde vorbei, immer weiter über das Tal hinweg, die Schafwiese, in ein anderes Fenster hinein, vor dem zwei Mädchen an einem Baum schaukeln. Hinter dem Fenster aber herrscht Dunkelheit. Die Melancholie einer ländlichen Idylle.

Mummenschanz. Stück für Stück: Spintisera

Mummenschanz

Obwohl dies hier nur ein relativ kurzer Text ist, muss ich doch einiges dazu anmerken. Nicht nur ist es das letzte Stück, das ich für die Sammlung schrieb, es zeigt auch gleichzeitig die Tendenz meiner gegenwärtigen Arbeit. Müsste ich sie beschreiben, würde ich sie als Kristallisation bezeichnen. Ausgehend von einem einzigen Gedanken folgt man diesem in seiner möglichen Konsequenz, die wiederum ganz unterschiedlich aussehen kann. Das wirkt nicht selten surreal und ist es insofern tatsächlich, weil es die Wahrnehmung verschiebt und Unmöglichkeiten einbezieht. Es mag wie eine Spielerei aussehen, doch ich meine das ganz ernst. Mit dem Spruch alles wurde bereits erzählt kann ich deshalb nichts anfangen, weil er ganz einfach falsch ist. Es ist unwichtig, was man erzählt. Das Wie ist maßgeblich.

Mummenschanz. Stück für Stück: Der Abgrund

Mummenschanz

Wie viele meiner Geschichten hat auch diese eine Odyssee hinter sich. Tatsächlich arrangiere ich meine Texte so oft um, bis vom Ursprung nichts mehr übrig ist. Manchmal dauert dieser Prozess zehn Jahre oder länger. Da ich sehr viel schreibe (und wenig veröffentliche), spielt das keine erhebliche Rolle. Nahezu alles, was ich in fast 40 Jahren zu Papier gebracht habe, bedingt sich gegenseitig. Meine Figuren sind – wie meine “Gespenster” – Aspekte von etwas oder von jemandem, doch im Grunde erfinde ich sie nicht. Der Protagonist dieser Erzählung ist der Aspekt meines Urgroßvaters, der im 1. Weltkrieg das Schlachtfeld von Ypern überlebte, Ehemann der Johanna, die im “Böhmwind” die erste Sturmwolke nahen sieht, Vater des Carlos und Großvater des Noob in “Dorothea” und Erzähler einer Geschichte, die noch nicht veröffentlicht wurde. Vielleicht ist das hier eine existentielle Parabel – eigentlich ein Begriff, den ich ablehne. Aber man wird mir vielleicht zustimmen.

Mummenschanz. Stück für Stück: Die Gasse der sprechenden Häuser

Mummenschanz

Ursprünglich hatte ich die Idee, tatsächlich eine ganze Gasse zu illuminieren, in der sich eine Häuserfamilie niedergelassen hat, Spukhäuser allesamt, die ihre eigenen Geschichten zu besten geben. Man wird unschwer erkennen, dass aus dem Vorhaben nichts wurde – zumindest ist das für eine kürzere Geschichte ein zu großes Unterfangen. Von allen haunted places ist mir das Spukhaus der liebste verwunschene Ort. Schließlich erinnerte ich mich an die pilzbefallene Wand in der Küche meiner Großeltern, die zum Fluss hin ragte und so gut wie nie trocken zu bekommen war. Meine Großmutter starb, mein Großvater zog aus, und für ein paar wenige Monate bewohnte ich mutterseelenallein den Ort, an dem ich aufgewachsen war. Dies war die Geburtsstunde eines Schriftstellers, wenn man so will. Die Stimmen der Nacht waren so laut, dass ich erst schlafen konnte, wenn sich die Sonne sehen ließ. Wie hätte ich meine Nächte anders zubringen können als im Zwiegespräch mit dem Unbekannten?

Mummenschanz. Stück für Stück: Vampyradonna

Mummenschanz in großen Hallen

Eine Vampirgeschichte zu schreiben kam für mich gar nicht infrage, also habe ich hier etwas anderes gemacht. Vampyradonna gehört zu meinen – wirklich zahlreichen – Flash Fiction-Texten. Ich bin mir nicht immer sicher, was das Konzept meiner Erzählungen betrifft, aber ich glaube, dass ich die kurze Form perfekt beherrsche. Leider spielt sie keine große Rolle bei den Lesern, weshalb ich die Gunst der Stunde nutzte, sie in den Erzählband hineinzumogeln. Das habe ich sogar noch einmal gemacht, bei Spintisera und Antic Soccer. Der Text hat vielleicht einen Hauch der Fabel um den Frosch und den Skorpion, allerdings innerhalb einer – nun ja – leidenschaftlichen Beziehung; aber er geht am Ende doch etwas darüber hinaus.

Sprache und Nichtsein

Es ist mir die Sprache das einzige Transportmittel, um in Regionen vorzustoßen, um die man kaum mehr zu kreisen wagt. Dazu aber muss eine bloße Erzählhaltung aufgegeben werden, die so sehr unsere Sinne beeinflusst und in den meisten Fällen auch einengt, wie alles, was man Gegenwart nennt. Nun ist Gegenwart nichts Endgültiges, man kann sie jederzeit verlassen, um sich außerhalb der Zeit zu positionieren, womit aber gleichzeitig auch die Schwierigkeit beginnt. Die Existenz ist ein Schreckenskabinett, und das war sie von Anfang an; tatsächlich wäre es besser, nicht zu existieren, wie Silenos, der Erzieher des Dionysos, es seinem Schützling gegenüber erwähnte. Drängt alles zum Leben hin, um gewesen zu sein? Oder wird das, was nicht ist, aus einem unbekannten Grunde dazu ermuntert, eines Tages zu sein, so dass alles irgendwann gewesen ist? Oder kann das Nichtsein nur daran gemessen werden, dass eines Tages einmal alles war? Diese Fragen sind der Sprache immanent.

Mummenschanz. Stück für Stück: Mummenschanz in großen Hallen

Mummenschanz in großen Hallen

Wortkompositionen sind manchmal die Keimzelle für ein bestimmtes Gefühl, mit dem ich arbeite. Ich habe sehr viele linguistische Spielerein produziert, und dadurch wurde mir im Laufe der Zeit der Titel oft genauso wichtig wie der folgende Textkörper. Für Mummenschanz in großen Hallen war einmal mehr die Idee der Vergänglichkeit (oder besser gesagt die Idee des Wandels) verantwortlich, aber zu Beginn stand das Wort “Mumpenzimmer”. Das Wort “Mumpe” ist ein Kofferwort aus “Microballons” und “Pampe” und bezieht sich auf einen Füllstoff. Allerdings wusste ich davon nichts. Mir ging es darum, einen Raum zu benennen, in dem die Seelen ausrangierter Dinge landen. Es ist ein Spiel mit der Transformation, die eigentlich von Platons Ideenlehre abstammt, natürlich indem ich ihm widerspreche. Selbstverständlich ist ein Knopf ein Knopf und wird nie etwas anderes sein. Anders wie etwas Platons “Knopfheit” aber gibt es bei mir die Progression der Bestimmung. Einfach ausgedrückt: ein Knopf mag eine Weste schließen, aber in meinen großen Hallen kann er vielleicht irgendwann dasselbe mit einer Türe tun. Darum geht es freilich nicht alleine, aber ich werde einen Teufel tun, irgendeine Interpretation zu liefern. Ich gehöre zu jenen Autoren, die keinen Anspruch auf die Deutung eines Werkes geltend machen, sobald es in die Öffentlichkeit gelangt ist. Ich habe oft genug dem Raunen der Interpreten zugehört und mich gewundert, aber es war vielmehr ein Staunen.

Wir müssen uns den Begriff Mummenschanz noch etwas genauer ansehen. Nicht, dass jedem klar sein dürfte, dass er mit Verkleidung und Maskerade zu tun hat, schließlich mit dem Vermummen und Verhüllen. Aber obwohl deutsche Quellen aus dem 16. Jahrhundert auf den Karneval hinweisen, bei dem maskierte Personen von Haus zu Haus gingen und ein Würfelspiel an der Türe anboten, wurde der Mummenschanz bereits im 18. Jahrhundert nur noch mit harmloser Verkleidung in Verbindung gebracht (so sicher war das eigentliche Würfelspiel nämlich nicht, man konnte natürlich alles gewinnen, aber man konnte eben auch alles verlieren.)

Die eigentliche Wurzel finden wir in der griechischen Mythologie, wo Momus die Personifikation der Satire und des Spottes ist. Als scharfzüngiger Geist, der ungerechte Kritik übte, wurde Momus schließlich aus der Gesellschaft der Götter des Olymp verstoßen. Hesiod sagte, dass Momus ein Sohn der Nacht (Nyx) war.

Mummenschanz. Stück für Stück: Dunkelviolette Geschichten

Mummenschanz in großen Halen

Im Englischen gibt es die Bezeichnung “purple prose”, und wer immer die Absicht hat, ein unsägliches Schreibseminar zu besuchen, wird als erstes lernen, sie zu vermeiden, weil sie den Erzählfluss stört, indem sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf einen eigenen extravaganten Schreibstil lenkt. Nun, dessen bin ich ganz und gar schuldig. Es gibt ein nettes Zitat von Paul West, das folgendermaßen lautet:

“Es gehört schon eine gewisse Frechheit dazu, sich für Prosa einzusetzen, die reich, saftig und voller Neuerungen ist. Lila ist unmoralisch, undemokratisch und unaufrichtig; im besten Fall kunstvoll, im schlimmsten Fall der vernichtende Engel der Verderbtheit.”

Nun nenne ich meine Erzählungen natürlich nicht “lila”, sondern Dunkelviolett, vor allem deshalb, weil es diese Farbe überhaupt nicht gibt und sie nur im Kopf entsteht. Weder geht das kurzwellige Violett in einen Rotbereich über, noch sind in dem langwelligen Rot-Bereich Blaumischungen enthalten. Auf meine Literatur angewandt bedeutet das eine mystische violette Welt, eine Balance zwischen Natur und “Märchenwelt”. Ich glaube, dass es das durchaus trifft und es sich bei dieser Kategorisierung nicht nur um einen Jux handelt.